Jung sind wir. Und schnell. Und schön. Weil wir jung sind. Wir glauben, nichts könnte uns aufhalten. Wir denken,
wir haben alle Zeit der Welt.
„It’s a fucking city! I know, they told us all the time. And I expected it to be huge. But still, when you look at all this, it’s a freaking entire city, man!“
Eric bekommt sich schon seit zwei Stunden nicht mehr ein. In seiner typischen, amerikanischen Art der überbordenden Emotionen scheint er mehr zu sich selbst zu sprechen als zu uns. Und zwei Stunden sind es bereits, die wir in Pompeii umherlaufen. Uns treiben lassen, durch Häuser wandern, in denen vor unzähligen Jahren ganze Familien gewohnt haben, bevor ihr Leben, ihr Lebensraum, ihre Partner und Kinder, ihre Heimat und sie selbst von einem auf den anderen Moment in Lava versanken.
Mittlerweile nicke ich nur noch, während ich neben ihm und einem anderen Gast aus dem Hostel herstolpere, mir die Sonne ins Gesicht brennt und ich mich von der Atmosphäre dieser, ja, dieser GANZEN wiedergefunden Stadt Pompeii einnehmen lasse. Kurzerhand beschließe ich in eine größere Ruine abzubiegen, weil etwas meine Aufmerksamkeit erregt hat.
Die beiden folgen mir, als ich durch die Tür in einen großen Raum trete, der früher wohl so etwas wie der Empfangsbereich eines reichen Anwesens gewesen sein musste. Ich lasse den Blick schweifen, mich umfängt diese spezifische Kälte von sehr alten Gemäuern und der Geruch von Lehm. Als sich meine Augen an das Dunkle des Raums gewöhnt haben, sehe ich, dass jedes der großen Fenster auf die Gebirskette vor uns gerichtet ist. Und mir wird klar, was es bedeutet haben musste, damals, für diese Menschen, die so stolz auf ihre wunderschöne Landschaft und den ertragreichen Boden waren, hier, mit diesem Blick zu wohnen. Es war alles für sie, ihr ganzer Stolz, ihre ganz eigene Wiege des Lebens. Und genau das wurde ihnen zum Verhängnis. Vielleicht haben sie sich in der Sekunde sogar betrogen gefühlt, als sie realisierten, dass der Berg ,auf dessen fruchtbare Hänge sie so stolz waren, ihnen den Tod bringen würde.
Das frage ich in die Stille hinein als wir auf die ehemalige Terasse des Hauses treten und uns das Panorama ansehen. Es ist wunderschön warm, still, grün. Ein leichter Wind weht und ich stelle mir vor, wie vor den großen Fenstern grob gewebte Stoffbahnen hingen, die sich leicht in der Luft bewegten. „It could erupt every minute now. It’s already late, due to the fact that it becomes active every 60 years or so. Now its already 80 years since the last time.“ Murmle ich. Mehr zu mir selbst als zu den anderen beiden.
Wir schweigen als uns klar wird, was das eigentlich bedeutet. Es bedeutet nicht nur, dass wir theoretisch für die Zeit, die wir hier sind, in erhöhter Gefahr schweben, sondern auch, dass die Menschen, die immernoch am Fuße dieses brodelnden Berges wohnen, es irgendwie in Kauf nehmen, jederzeit ihre Heimat aufgeben zu müssen. Wenn sie es denn schaffen, das Gebiet rechtzetig zu verlassen. Plötzlich ist uns ganz mulmig.
„How many people live in Naples?“ „ 2 Million.“ Schnell überschlage ich im Kof wie viele Flugzeuge, Schiffe, Autos, Busse, Bahnen nötig wären, um alle Menschen zu evakuieren. Und tatsächlich gibt so etwas wie einen Evakuierungsplan für die Region. Aber ich komme zu dem Schluss dass das nicht klappen würde. Alle Menschen an Plätzen sammeln um sie geordnet in Fahrzeige zu verpacken? Nicht mal im geregelten Deutschland würden die Menschen ohne Panik zu Sammelstellen laufen. Und hier, im chaotischen Neapel? Praktisch undenkbar.
T h i s i s c r a z y. I w o u l d n‘ t w a n n a l i v e i n s u c h c o n s i s t e n t d a n g e r .
T h a t w o u l d b e j u s t a n o t h e r t h i n g o n m y l i s t , o n e m o r e t h i n g t o w o r r y a b o u t .
N o t h a n k y o u .
Aber wo ist eigentlich der Unterschied?
Zwischen dem bewussten Leben neben einer lebensbedrohlichen Naturgewalt, die Dich jederzeit erfassen könnte und dem Leben in einer Stadt, auf dem Land, irgendwo auf der Welt, wo Du zwar nicht einen Vulkan vor der Haustür, aber doch immer eine andere potentielle Gefahr lauern hast. Denn seien wir mal ehrlich, Du und ich, wir werden sterben. Ob auf natürliche Weise oder durch Krankheit, Unfall oder eben Naturgewalten. Und nirgendwo bist Du wirklich sicher davor, dass Dir etwas passiert. Ob es ein Vulkan ist, der ausbricht oder Starkregen, der einen Erdrutsch verursacht. Ob es eine Unachtsamkeit im Haushalt oder eine Lungenentzündung ist. Ob es im hohen Alter passiert oder früher.
Oh, ich weiß, das ist kein schönes Thema. Es schickt sich nicht all zu viel über den Tod nachzudenken, darüber zu reden oder es öffentlich zum Thema zu machen. Es ist noch so ein stummes Thema unserer Zeit. Aber als ich durch Pompeii gelaufen bin und diese drückende Stimmung gefühlt habe, diese Mischung aus Erfurcht vor so viel Kultur und dem Wissen darum, dass hier etwas richtig Schlimmes passiert ist, haben sich mir diese Gedanken mehr denn je aufgedrängt. Dieses „ alles ist vergänglich“ und „du denkst du bist unsterblich, aber das bist du nicht“. Dieses „lebe jeden Tag als ob es dein Letzter sei und lerne endlich mehr zu schätzen, dass das, was du hast, Dir jederzeit genommen werden könnte.“
Ich spürte in diesem Moment mehr denn je, wie kostbar mein Leben ist, wie fragil. Und wie selbstverständlich all jene Dinge für mich sind: Gesundheit, Jugend, Sicherheit. Tatsachen, die ich als gegeben, nicht weiter beachtenswert betrachte. Aber das sind sie nicht. Und vor allen Dingen, das sind sie nicht nur nicht für mich sondern auch für die Menschen, die ich liebe.
Im Gegensatz zu den Neapolitanern habe ich keinen täglichen Reminder vor meinem Fenster, der mir das verdeutlicht. Keinen Vulkan, der mich daran erinnert jeden Tag zu leben wie als sei es mein Letzter und die Zeit mit den Menschen zu genießen, die mir wichtig sind. Denn morgen schon könnte sich meine Welt auf den Kopf stellen.
Es ist schwer sich Motivation davon zu versprechen, dass man sich jeden Tag sagt, das Selbst sei vergänglich. Viel einfacher ist es, wenn man sich vorstellt, dass der, den man liebt, nicht mehr sein wird.
Als ich klein war hatte ich ständig Angst vor dem Tod. Vor Verlust. Vor dem Alt werden. Ich weiß nicht warum, aber ich erinnere mich, dass ich nachts oft wach lag und mit meinen sehr jungen Jahren daran dachte, wie es ist zu sterben. Wie man dann einfach “nicht mehr da“ ist und wie es sich anfühlen muss, dieses “verschwunden sein“. Und ich erinnere mich an den Horror und die Traurigkeit, die mich bei dem Gedanken gepackt haben. Gesprochen habe ich darüber niemals.
Der Sinn des Lebens
ist
Leben. Punkt.
-Casper
Erst viel später führte ich wieder Unterhaltungen über das Sterben. Wenige. Meistens war ich dabei nackt. Ja, es sind diese Gespräche, die man genau dann führt, wenn man gerade jemandem sehr nah war, sich physisch schon geöffnet hat. Da fällt der Seelenstriptease plötzlich sehr einfach. Wenn man nebeneinander auf dem Boden liegt und durchs offene Fenster die Sterne anguckt.
„Weißt du, ich habe nicht so viel Angst vor meinem eigenen Tod. Eher davor, dass die Menschen, die mir wichtig sind, sterben. Der Verlust. Das ist, was mich am meisten ängstigt.“
Und erst kürzlich traf ich jemanden, der schon einen großen Verlust in seinem Leben hinnehmen musste. Und ich knabbere heute noch auf Teilen unserer Unterhaltung darüber herum, was es mit einem machen kann, wenn man jemanden verliert und der Tod ein wiederkehrendes Motiv im eigenen Leben ist. Und wobei es doch die größte Motivation dafür sein könnte, das Beste aus seiner eigenen Zeit herauszuholen, so ist es wohl doch so, dass der Tod anderer Menschen sich wie eine Lähmung aufs eigene Leben ausüben kann. Dass es dazu führt, dass man keinen Sinn mehr sieht, obwohl sich all der Sinn gerade vor einem erstreckt hat.
Ich habe in meinem Leben noch niemanden an den Tod verloren. Habe noch niemals am Grab eines Menschen stehen müssen, den ich liebte. Musste mich noch nie daran gewöhnen, dass jemand, der immer da war, es nun nicht mehr ist. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen.
Und ich kann nicht sagen, wovor ich Angst habe. Sicherlich nicht vor dem Sterben. Nicht so viel. Vielleicht vor dem Alt werden, dem nicht genug gelebt haben, dem Leiden. Darunter, nicht genug Zeit gehabt zu haben oder meine Möglichkeiten nicht ausgeschöpft zu haben.
D i e M e n s c h e n i n N e a p e l u n d U m g e b u n g . Diese Leute, die den Vesuv jeden Tag im Blick und wenn nicht das, doch diese unterschwellige Gefahr ständig in ihrem Leben haben- sind sie denn zu bemitleiden? Oder ist es gerade dieser Fakt, dieses Ausrufezeichen vor ihren Haustüren, das etwas mit Ihnen macht. Etwas, was sie beneidenswert macht um ein Bewusstsein, dass das eigene Leben vergänglicher ist als wir alle uns eingestehen wollen.
Denn Tatsache ist, wo es gut ist, dass wir den Tod so oft vergessen, damit wir unbeschwert durchs Leben gehen können, so ist es auch ein Nachteil. Denn Achtsamkeit und Dankbarkeit kommt vom Wissen und Fühlen, dass nichts selbstverständlich ist. Davon im Jetzt zu leben, weil Du nie wissen kannst, was in der Zukunft ist. Wertzuschätzen was und wen du hast und mit diesem Wissen positive Pläne für die Zukunft zu schmieden, um die persönlichen Ziele zu erreichen, die dich zufrieden machen.
Wie so oft geht es um die Balance zwischen zwei Polen. Dem Zufriedensein mit der eigenen Comfort Zone, dem status quo, aber auch dem Weiterstreben nach neuen Zonen, in denen du dich wohl fühlen kannst. Das Nutzen deiner eigenen Möglichkeiten, die nicht selbstverständlich sind.
Der Neapolitaner, wie ich ihn kennen gelernt habe, der kennt keine Ampeln, keine Fußwege und Radwege, keine Helme. Er fährt schnell und halsbrecherisch auf seinem Moped durch die engen Gassen. In der einen Hand die Pizza, in der anderen die Zigarette und hupt alles weg, was ihm in den Weg kommt. Aber er ist niemals risky. In seiner wilden, temperamentvollen Art ist er doch sehr sicher und fröhlich. Er ist nicht mutwillig fahrlässig. Nur eben mutig. He is living boldly. Vielleicht kommt es vom Vesuv. Vielleicht blickt er jeden Morgen auf diesen passiv brodelnden Berg und nimmt sich vor niemals zu warten. Immer den Moment zu genießen, aber nie still zu stehen.
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